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Noologie, noologisch

Noologie, noologisch 2782 10.24894/HWPh.2782 Barbara Ränsch-Trill Redaktion
Erkenntnistheorie Metaphysik cognatio rerum affinitas rerum6 904 Verwandtschaft der Dinge Methode, noologische6 905 Intuition6 905 Gewissheit6 905
Noologie (lat. noologia, engl. noology), noologisch. ‹Noologia› wurde von A. Calov um 1632 geprägt als Name für eine von ihm parallel zu seiner Gnostologia in enger Anlehnung an G. Gutke ausgearbeitete weitere Fundamentaldisziplin der Metaphysik [1]. Das Manuskript der ersten Fassung geht verloren [2]. 1639 disputiert C. Praetorius unter M. Eifler über Begriff und Gegenstand der allgemeinen N. 1650 veröffentlicht Calov eine Neufassung seines früheren Entwurfes. Im Anschluß daran verfassen G. Meier und G. Wagner eigene N.en. Als der eigentliche Urheber der N. gilt den Zeitgenossen weiterhin Gutke mit seiner seit 1615 entwickelten Theorie der Intelligenz [3]. Unter Ersetzung des für diesen zentralen Begriffs der «subtilitas rerum» durch weniger dunkle Ausdrücke, wie «affinitas» oder «cognatio rerum», bestimmt Calov die N. als diejenige erworbene Hauptfertigkeit des Geistes, welche weder, wie die Gnostologie, das Wißbare als solches noch, wie die Metaphysik, das Seiende als Seiendes, sondern die Verwandtschaft der Dinge in Betracht zieht, sofern sich aus ihr die ersten komplexen Erkenntnisprinzipien herleiten: «Noologia est habitus mentis principalis affinitatem rerum contemplans, quatenus ex eadem prima cognoscendi principia fluunt» [4]. Als habitus noeticus ist sie früher als der diabetische habitus der Metaphysik, als der zweiten Geistestätigkeit oder der Aussagenbildung zugeordnet später als die Gnostologie. Anders als der Noologismus R. Euckens und seiner Schule – von O. Siebert auch «System selbständiger Geistigkeit» oder «Noetismus» genannt [5] – ist die ältere N. nicht, wie P. Petersen angenommen hat, eine Weiterentwicklung der averroischen Noetik, sondern eine systematische erkenntniskritische Ausarbeitung der in der Scholastik aus aristotelischen Vorgaben entwickelten Formel vom Intellekt als «habitus primorum principiorum» mit den Denkmitteln des skotistischen Formalismus (Ph. Faber Faventinus) und auf der Grundlage der Cardano-Kritik Scaligers. Ihre Ausgrenzbarkeit als Sonderdisziplin ist von Anfang an strittig gewesen. Sie galt wie die Gnostologie als eine überflüssige Wiederholung dessen, was unter den Gegenstandsbereich anderer Wissenschaften fällt (D. G. Morhof, S. Hollmann), vornehmlich der Metaphysik (J. Thomasius, P. Rabe) [6]. Nach C. A. Crusius bildet sie als «Erklärung von dem Wesen des menschlichen Verstandes» im Gegensatz zur Willenslehre (Thelematologie) keine besondere Wissenschaft, kann aber, da in der Einrichtung unseres Verstandes viel Zufälliges ist, nicht zur Metaphysik gezogen werden und sollte daher der Logik zugeordnet bleiben [7]. W. Hamilton charakterisiert die noologischen Traktate des 17. Jh. als in der Ausführung enttäuschend und zu Recht vergessen [8]. Erst durch die seit H. E. Weber[9] diskutierte Verwandtschaft Gutkes mit Kant haben die Leistungen der «secta Gutkiana» (Paschius) neues Interesse gefunden. Für I. Kant haben Leibniz und Locke den Streit der Noologisten und Empiristen, als deren Häupter Platon und Aristoteles angesehen werden können, nicht zur Entscheidung gebracht [10]. Für J. Bentham ist die N. als alegopathematische Pneumatologie neben der Thelematologie ein eigener Zweig der Psychologie [11]. In der französischen Tradition ist A.-M. Ampères auch von P.-J. Proudhon aufgegriffene Einteilung der Erkenntnissphäre in die beiden Reiche der kosmologischen und noologischen Disziplinen (sciences noologiques) von Einfluß gewesen.
R. Eucken nennt ‹noologisch› die Methode, die «Entwicklung des Geistes innerhalb der Menschheit» [12], d.h. der Wissenschaft, Kultur und Moral, von der geistigen Potenz des Menschen, nicht von seiner Naturseite her (psychologisch) zu interpretieren. Eucken unterscheidet die Geistesentwicklung nach zwei Bewegungen: 1. der Bewegung des Geistes nach außen, auf die Welt hin, 2. der Bewegung des Geistes nach innen, der Konzentration auf das individuelle, moralische Selbst. Erst mit Hilfe der noologischen Interpretationsmethode wird die «metaphysische Wurzel» [13], der selbständige Geist, als begründendes Prinzip aller menschlichen Leistungen manifest. Im Ausgang von Eucken hat M. Scheler die noologische Methode als einen Versuch angesehen, «die bei Kant teils zu wenig geschiedenen, teils in Widerspruch zu einander geratenden Methoden der Transzendentalphilosophie und Transzendentalpsychologie prinzipiell zu einigen» [14]. H. Höffding hat die Existenz einer solchen Methode bestritten und den Terminus ‹N.› als eine weder notwendige noch glückliche Bezeichnung angesehen [15]. In der Euckenschule hat sich aus der noologischen Methode eine besondere Richtung der Pädagogik entwickelt (G. Budde u.a.). Für H. Gomperz ist die N. neben Ontologie und Kosmologie einer der Hauptteile der Weltanschauungslehre. Sie hat «die logischen Grundbegriffe selbst so weit zu reinigen, daß sie mit den korrelaten Begriffen der Psychologie verträglich werden» [16].
Von J. Volkelt[17] wird ‹noologisch› im Zusammenhang mit dem Begriff (Intuition) verwendet. Er unterscheidet vier Formen intuitiver Gewißheit: 1. ethische Gewißheit, 2. religiöse Gewißheit, 3. ästhetische Gewißheit, 4. noologische Gewißheit. Die ethische Intuition erzeugt die Gewißheit des Selbstwerts des Sittlichen, die religiöse das Gefühl der Gewißheit der Einheit mit Gott, die ästhetische Intuition die Gewißheit vom Selbstwert des Ästhetischen, die noologische Intuition erzeugt den unmittelbaren Glauben an die logische Notwendigkeit. Der sachliche Zwang des logischen Denkens, welches sich nach dem Satz vom Widerspruch organisiert, ruht in der intuitiven Gewißheit, ist aber nicht zurückführbar auf diese. «Die intuitive Gewißheit ist nur die subjektive Form, in der sich mir der sachliche Zwang des Logischen zu spüren gibt» [18]. «Es erscheint mir nicht unpassend, diese vierte Form der intuitiven Gewißheit als noologische Intuition zu bezeichnen» [19].
[1]
Vgl. M. Wundt: Die dtsch. Schulmetaphysik des 17. Jh. (1939) 137, Anm. 1; 257.
[2]
A. Calov: Scripta philos. 1 (1651) 8.
[3]
G. Paschius: De novis inventis (21700) 14; J. G. Zeidler: Ihre Praecellentz die Noologia oder Versteherey (o. J., ca. 1701) Vorrede.
[4]
A. Calov: Στοιχείωσις Νοολογική, vel habitus intelligentiae contemplans affinitatem rerum, quatenus ex ea prima cognoscendi principia fluunt (1650) a.O. [2] 49–115, zit. 51.
[5]
O. Siebert: Rudolf Euckens Welt- und Lebensanschauung und die Hauptprobleme der Gegenwart (41925) 54ff.
[6]
Vgl. P. Petersen: Gesch. der arist. Philos. im Protestant. Deutschland (1921) 323f.; S. C. Hollmann: Paulo uberior in universam philosophiam introd. I (1734) 28; P. Rabe: Cursus philosophicus (1703) 1206f.
[7]
C. A. Crusius: Entwurf der nothwendigen Vernunft-Wahrheiten (1745) 9; Weg zur Gewißheit und Zuverläßigkeit der menschl. Erkenntniß (1747) 26f.
[8]
Th. Reid, Philosophical works, hg. W. Hamilton (Edinburgh 81895, ND 1967) II, 770a; W. Hamilton: Lectures on metaphysics and logic 1 (1870) 123.
[9]
H. E. Weber: Die philos. Scholastik des dtsch. Protestantismus im Zeitalter der Orthodoxie (1907) 107ff.
[10]
Kant, KrV A 854/B 882.
[11]
The works of J. Bentham, hg. J. Bowring (ND New York 1962) VIII, 88b. 288a.
[12]
R. Eucken: Die Einheit des Geisteslebens in Bewußtsein und That der Menschheit (1888) 451.
[13]
a.O. 450.
[14]
M. Scheler, Ges. Werke 1 (1971) 335.
[15]
H. Höffding: Moderne Philosophen (1905) 185f.
[16]
H. Gomperz: Weltanschauungslehre 2: Noologie, 1. Einleitung und Semasiologie (1908) 42.
[17]
J. Volkelt: Gewißheit und Wahrheit (1918).
[18]
a.O. 550.
[19]
ebda.
C. Praetorius (Pr. M. Eifler): Disputatio noologiam generalem succincte proponens (1639). – A. Calov s. Anm. [4]. – G. Meier: Intelligentia sive Noologia (1666). – G. Wagner: Synopsis noologica (1670). – J. G. Zeidler s. Anm. [3]. – A.-M. Ampère: Essai sur la philos. des sci., ou Exposition analytique d'une classification naturelle de toutes les connaissances humaines (Paris 1834). – H. Gomperz s. Anm. [16]. – G. Budde: Noologische Pädagogik. Entwurf einer Persönlichkeitspädagogik auf der Grundl. der Philos. R. Euckens (1914). – P. Petersen s. Anm. [6] 313ff. – M. Wundt s. Anm. [1].